Alarm am Monte Kali
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Alarm am Monte Kali
DER SPIEGEL - 35/2009
Es ist eine idyllische Wiese dort hinter der alten Schachtanlage, und wer sie betreten will, zieht am besten Gummistiefel an. Der Boden ist auch im Sommer feucht; grün und lila leuchten Pflanzen in der Sonne. Der Europäische Queller gedeiht hier wunderbar. Feinschmecker lieben die fleischigen Stängel im Salat. Sie schmecken nach Salz, nach Fisch und nach Meer. Dort, an der Küste, wächst Salicornia europaea am besten. Und hier, in der Mitte Deutschlands, in der thüringischen Gemeinde Dippach an der Werra, wo in der Luft ein Hauch von Wattenmeer liegt.
Es ist eine idyllische Wiese dort hinter der alten Schachtanlage, und wer sie betreten will, zieht am besten Gummistiefel an. Der Boden ist auch im Sommer feucht; grün und lila leuchten Pflanzen in der Sonne. Der Europäische Queller gedeiht hier wunderbar. Feinschmecker lieben die fleischigen Stängel im Salat. Sie schmecken nach Salz, nach Fisch und nach Meer. Dort, an der Küste, wächst Salicornia europaea am besten. Und hier, in der Mitte Deutschlands, in der thüringischen Gemeinde Dippach an der Werra, wo in der Luft ein Hauch von Wattenmeer liegt.
Klaus Reinhardt zieht ein kleines Messgerät aus der Tasche und taucht es in eine Wasserlache. "Der Salzgehalt nimmt ständig zu", sagt er, "hier spielt die Natur völlig verrückt." Reinhardt ist Vorsitzender der Bürgerinitiative "Für ein lebenswertes Werratal". Er misst die Leitfähigkeit und damit die Salzkonzentration. "Vor Jahren war das noch ein normales Feld, aber nun wächst die Salzfläche immer weiter." Mit einer kleinen Pfütze hat es angefangen, inzwischen ist die Salzwiese groß wie ein Fußballfeld.
Wenige hundert Meter entfernt fließt die Werra braun und träge vorbei. Im Wasser treiben Brackwasseralgen, die in der Ostsee zu Hause sind. Lange schon gibt es statt Lachsen, Neunaugen und Karauschen Neuseeländische Zwergdeckelschnecken und Tigerflohkrebse. "Die Werra ist der am stärksten belastete Fluss in ganz Mitteleuropa", sagt der Kasseler Ökologe Ulrich Braukmann.
Im Städtchen Gerstungen, fünf Kilometer von Dippach entfernt, ist schon vor fünf Jahren die Salzkonzentration in einem Brunnen innerhalb kürzester Zeit um das 70fache gestiegen, und auch andere Messstellen registrierten alarmierende Werte.
"Potentiell ist das Trinkwasser in der gesamten Werra-Region bedroht", befürchtet Rainer Fuchs vom Hessischen Landesamt für Umwelt und Geologie. Vor allem dann, wenn Salzwasser aus dem Untergrund aufsteigt und das darüberliegende Süßwasser
Riesige Salzberge in der Landschaft, Salz in Flüssen, Salz auf Wiesen, Salz im Grundwasser - die Verseuchung eines ganzen Landstrichs ist der Preis des Kali-Bergbaus, der vielen Menschen in der Mittelgebirgsregion zwischen Kassel, Fulda und Eisenach in den vergangenen hundert Jahren Arbeit und einen bescheidenen Wohlstand verschafft hat.
Es ist der klassische Konflikt zwischen Profitinteressen und Arbeitsplätzen auf der einen und der Umwelt auf der anderen Seite. Und die Natur war es, die in diesem Kampf bislang immer verloren hat. Doch nun sieht es so aus, als würden sich die Gewichte in diesem Streit verschieben. Die Umweltprobleme haben sich über die Jahrzehnte akkumuliert und drängen nun buchstäblich an die Oberfläche, wo sie sich nicht länger ignorieren lassen.
Seit über hundert Jahren wird Kali, ein wertvoller Dünger, in Gruben entlang der Flüsse abgebaut. Vier Bergwerke betreibt der größte Salzhersteller der Welt, die Kasseler K+S AG, in der Werra-Region und gibt so 6000 Menschen Arbeit. Allein im Kreis Hersfeld-Rotenburg stellen die Kali-Kumpel zehn Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten.
Doch mit jeder Tonne Kali, die aus dem Untergrund kommt, wächst auch die Umweltbelastung der Region. Bei der Produktion entstehen salzhaltige Abwässer, die von den Bergleuten seit langem in den Fluss geschüttet oder in den Boden gepumpt werden. Das hat sich seit hundert Jahren nicht geändert.
Fünf Millionen Tonnen Dünger und industrielle Vorprodukte setzte K+S im vergangenen Jahr ab. Auf jede verkaufte Tonne kommt die fünffache Menge Rohsalz, die an die Erdoberfläche gefördert wird. Das meiste davon landet auf Halden oder im Abwasser. Sieben Millionen Kubikmeter Salzlauge leitete der Salzkonzern jährlich in die Werra ein; noch einmal die gleiche Menge wurde tief in den Untergrund gepumpt.
Nur die Wirtschaftskrise hat im vergangenen Winter die Natur entlastet. Als die Bergleute auf Kurzarbeit gesetzt wurden, fror die Werra wegen der geringeren Salzfracht erstmals seit Jahrzehnten wieder zu.
Schon seit Jahren stehen sich in der Region Bürgerinitiativen, Umweltverbände, Behörden und Industrielobby unversöhnlich gegenüber. "Derartige industrielle Anlagen sind leider immer auch mit gewissen Einschränkungen oder Unannehmlichkeiten verbunden", sagt etwa der Bad Hersfelder Landrat Karl-Ernst Schmidt und spricht aus, was auch viele Bürger denken. Die Sicherung der Jobs stehe an "erster Stelle".
Doch die Behörden, die bislang großzügig die Einleitung der Abwässer genehmigten, stehen mittlerweile unter Druck durch neue Wasserschutzvorschriften und EU-Richtlinien. Hinter verschlossenen Türen wird deshalb um eine Lösung gerungen. Es geht um ein kühnes Großprojekt zur Rettung des Kali-Bergbaus. Eine Pipeline über Hunderte Kilometer könnte in Zukunft das Salz in die Nordsee schwemmen.
Eine Lösung muss dringend her, denn die laxe Haltung der Behörden hat das Problem offenbar dramatisch verschärft. Die Beamten wollten den Fluss besonders preisgünstig entlasten und hatten angeordnete, die Abwässer im Untergrund zu versenken. Es war eine scheinbar bewährte Methode. Schon 1925 schütteten Bergleute Salzlauge in "Schluckbrunnen" statt in die Werra. Später wurde die salzige Suppe mit Druck unter die Erde befördert.
Auf diese Weise ist ein gigantischer, unterirdischer Salzsee entstanden, der mit 500 Quadratkilometer Fläche fast so groß ist wie der Bodensee. Wo er genau liegt, weiß niemand. Klar ist nur, dass es ihn gibt, denn in den vergangenen 80 Jahren landete etwa eine Milliarde Kubikmeter Salzabwasser unter Tage.
Kein Problem, versicherten bislang stets die zuständigen Behörden. Schließlich befinde sich einige hundert Meter unter der Erdoberfläche eine poröses Gesteinsschicht, der Plattendolomit, der sich ideal als Speicher eigne. Als K+S 1970 Salzlauge bei der Grube Wintershall im Untergrund entsorgen wollte, beruhigte der Vertreter des Hessischen Landesamtes für Bodenforschung besorgte Bürgermeister, dass bei der Versenkung "die gegenüber dem volkswirtschaftlichen Nutzen dieser Abwasserbeseitigung äußerst geringen Schäden das Erstaunlichste" seien.
Doch im vergangenen Jahr bestätigte eine Untersuchung, wovor der Thüringer Geologe Fritz Deubel die Behörden schon in den vierziger und fünfziger Jahren gewarnt hatte: Die Brühe wandert im Untergrund. Ein Fünftel, so die aktuelle Bilanz, sei bereits über Quellen und "diffuse Einträge" in die Werra gelangt. Schlimmer noch: 300 Millionen Kubikmeter Salzabwasser seien in den darüberliegenden Buntsandstein geflossen, aus dem auch das Trinkwasser gewonnen wird. "Die Versenkung muss so schnell wie möglich aufhören", fordert deshalb Wasserexperte Fuchs vom Hessischen Umweltamt.
Doch wohin mit der salzigen Brühe? In den Fluss, wie es die DDR seit 1968 machte, weil sie Sorge um ihre Brunnen hatte? Das verhindert schon die EU, die den Ländern vorschreibt, ihre Gewässer bis 2015 in einen "guten ökologischen Zustand" zu bringen. In der Werra muss die Belastung mit Chlorid bis dahin auf maximal 200 Milligramm pro Liter gesenkt werden. Derzeit ist das 12,5fache erlaubt.
Und auch der Härtegrad des Wassers, der von der Konzentration des Kalziums und Magnesiums abhängt, muss deutlich reduziert werden. 1999 hoben die Behörden den erlaubten Wert auf 90 Grad deutscher Härte an, selbst im Zweiten Weltkrieg waren nur 50 erlaubt. Dabei gilt Leitungswasser schon ab 18 Grad als so hart, dass Waschmaschinen und Kaffeeautomaten die Verkalkung droht.
"Der Ernst der Lage" sei der Unternehmensführung durchaus bewusst, versichert K+S-Sprecher Oliver Morgenthal im vierten Stock der gläsernen Konzernzentrale in Kassel. Doch schließlich gehe es auch ums große Ganze: "Wofür braucht man das Zeug? Kali?", doziert Morgenthal und reißt beide Arme in die Luft. "Die Weltbevölkerung wächst. Und alle wollen etwas zu essen haben. Darum."
Der Dünger ist für die Aktiengesellschaft ein gutes Geschäft. Im vergangenen Jahr, dem besten der Firmengeschichte, machte K+S 1,3 Milliarden Euro Gewinn. Zur Belohnung stieg das Unternehmen in den Dax-Index der 30 börsenstärksten deutschen Aktiengesellschaften auf. "Natürlich kann man sagen, die verdienen Milliarden und schütten ihr Abwasser in den Fluss", räumt Morgenthal ein. Andererseits habe sich der Zustand der Werra seit der deutschen Wiedervereinigung deutlich verbessert. "Damals trieben graue Schaumkronen auf dem Wasser", sagt er, "und heute beschweren sich die Angler über die vielen Kormorane am Fluss. Ja, fressen die etwa Algen?"
Tatsächlich hat K+S schon in den siebziger Jahren ein elektrostatisches Verfahren entwickelt, mit dem bestimmte Mineralsalze auf trockenem Weg getrennt werden konnten. Dadurch fielen weniger Abwässer an, zugleich aber wuchsen die Halden - und wurden ebenfalls zum Problem. In Neuhof bei Fulda hat K+S 100 Millionen Tonnen Abraumsalz zu einem gigantischen Berg aufgetürmt. Regnet es auf die Halde, suppt das Salz unten weg. 700 000 Kubikmeter Lauge entstehen dadurch im Jahr. Täglich transportieren etliche Tanklaster die Abwässer zur Werra.
Die größte Halde liegt im Werra-Städtchen Heringen. Ein grauweißer Berg, 250 Meter hoch, 1100 Meter lang, 700 Meter breit. 150 Millionen Tonnen Salz liegen hier, bis zu 275 Millionen sollen es nach den Plänen von K+S werden. Die Einheimischen nennen das Monstrum Monte Kali und versuchen, das Beste aus ihrem Hausberg zu machen. Ende August soll es dort oben eine Premiere geben, ein Konzert. Drei Alphornbläser werden spielen.
Die Halde sei die "größte künstliche Erhebung Europas", schwärmt Bürgermeister Hans Ries, ein ehemaliger Grüner. "Gegen diesen Giganten nimmt sich das Weltwunder Cheopspyramide mit lediglich 4,5 Millionen Tonnen geradezu niedlich aus." Die Attraktion wird dem Ort wohl noch lange erhalten bleiben. Selbst wenn der Kali-Bergbau irgendwann einmal beendet sein werden sollte, wird es 500 bis 1000 Jahre dauern, bis der Regen den Salzberg aufgelöst hat.
Mit Folie abdichten lässt er sich nicht, dafür ist er zu groß. Für eine Abdeckung mit Erdreich sind die Hänge zu steil, und selbst wenn die Halde abgeflacht würde, dürfte das mindestens 300 Jahre dauern. Zehn Stunden am Tag müsste alle sechs Minuten ein Lastwagen seine Ladung auf den Berg kippen.
"Prinzipiell möglich" wäre es allerdings, die Halde abzutragen und wieder unter Tage zu schaffen, sagt K+S-Sprecher Morgenthal. Doch das ist zu teuer. Acht Euro pro Tonne. "Wir verdienen unser Geld damit, dass wir etwas aus dem Berg rausholen, und nicht, dass wir etwas hineinbringen", sagt er.
Das stimmt nicht ganz. In Heringen hat eine E.on-Tochter gerade für 110 Millionen Euro eine Müllverbrennungsanlage gebaut. Der rotgestrichene Ofen soll nicht nur Abwärme an das benachbarte Kali-Werk liefern. Die Verbrennungsrückstände von 270 000 Tonnen Müll pro Jahr bekommt K+S - um sie im Stollen zu entsorgen.
Im vergangenen Herbst versprach K+S immerhin, 360 Millionen Euro in neue Techniken zu investieren und die Abwassermenge dadurch bis zum Jahr 2015 auf sieben Millionen Kubikmeter zu halbieren. Dafür ließ sich das Unternehmen im Februar von der hessischen und der thüringischen Landesregierung zusichern, dass "durch geeignete Gestaltung von Verwaltungsverfahren und die Ausschöpfung der behördlichen Verhandlungsspielräume größtmögliche Investitionssicherheit" geschaffen werde. Der Vertrag wurde am 4. Februar unterzeichnet, dem letzten Tag, an dem in Wiesbaden die CDU-Alleinregierung im Amt war.
Inzwischen allerdings ist klar, dass das Paket nicht ausreicht. Wenn die Erlaubnis zum Versenken im Boden 2011 endet, wird womöglich die Belastung des Flusses steigen, weil das Abwasser dann eben dort eingeleitet wird. Das Unternehmen plant zudem, "hartes Salzwasser" in den Grund zu pumpen, und zugleich weiche, früher versenkte Lauge aus der Tiefe heraufzuholen, was kaum genehmigt werden dürfte.
Dafür verärgerte die Übereinkunft den runden Tisch, den die beiden Länder im vergangenen Jahr eigens gegründet hatten, um eine gemeinsame Lösung für den Gewässerschutz zu finden. Erst kurz vor der Unterschrift wurden die 24 Mitglieder des Gremiums informiert, in dem Bürgermeister neben Ministerialbeamten des Bundes, Naturschützern und Gewerkschaftsvertretern sitzen. Über 70 Vorschläge hat die Runde bereits diskutiert. Dazu gehörte die Möglichkeit, das Salz der Abraumhalden Kommunen als Streusalz zu schenken.
Zu den Favoriten der Runde gehört ein Vorschlag, der schon in den siebziger Jahre diskutiert worden war. Eine gewaltige Pipeline könnte die Salzlauge zur Nordsee schaffen. Erst Ende des Monats will die Runde ihre Empfehlungen abstimmen, aber zumindest für Moderator Hans Brinkmann, den ehemaligen Präsidenten der Uni Kassel, ist das eine "sehr greifbare" Lösung: "Es ist die einzige Methode, alle Umweltziele zu erreichen und zugleich den Bergbau aufrechtzuerhalten."
Zwei mögliche Trassen sind denkbar. Entweder soll die Salzlauge parallel zur bestehenden Gaspipeline Midal diagonal durch Norddeutschland nach Emden oder aber entlang der Weser führen. Noch allerdings weiß niemand, wie viele Natur- und Vogelschutzgebiete dafür durchquert werden müssten. Nun soll eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden.
K+S aber bereiten nicht nur die kalkulierten Kosten von 700 Millionen Euro Sorgen, sondern auch das komplizierte juristische Genehmigungsverfahren und mögliche Klagen. Denn es gibt viele, die bei einem solchen Projekt mitreden dürfen.
Die hessische Landesregierung hat sich noch nicht offiziell festgelegt. Intern ist in Wiesbaden aber inzwischen klar, dass es keine Alternative zu dem Salzrohr gibt. Mehr noch: Die Behörden drängen K+S, dass spätestens im nächsten Jahr der Bau in die Wege geleitet werden müsse. Die Zeit dränge, nicht nur wegen der Situation an der Werra. Auch die Verklappung von Salzlauge in der Nordsee ist umstritten.
Widerstand kommt bereits vom nördlichen Nachbarn. "Das Wattenmeer ist Weltkulturerbe", sagt der niedersächsischen Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP), "eine Einleitung der Abwässer wäre keine gute Lösung."
Und selbst die EU könnte Ärger bereiten. Denn Brüsseler Richtlinien schützen nicht nur die Flüsse - sondern auch die Meere.