Westfalengänger
Dorfleben
Westfalengänger
Bittere Armut, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und Ernteausfälle lassen viele Menschen zu "Westfalengängern" werden. Männer verließen ihre hessischen Dörfer, um in den aufstrebenden Industrien und im Bergbau in Westfalen, im Rheinland und im Ruhrgebiet zu arbeiten.
Ziel dieser auch unter dem Begriff der Westfalengängerei bekannten Binnenwanderung war die expandierende eisenverarbeitende Industrie und die Tuchweberei in Remscheid, Barmen und Elberfeld. Es waren die Familien der Tagelöhner und Arbeiter, aus deren Kreisen der Großteil der Saisonarbeiter hervorging.
Der Zimmermann und "Westfalengäng" Balthasar Laun *1849 aus Herigen mit seiner Frau Anna Katharina Laun geb. Jordan und der Tochter Maria Elisabeth Laun *1878 und auf dem Tisch der Enkel Friedrich Laun *1899.
Vergessen wir nicht, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war unsere Region so arm, dass jährlich der überwiegende Teil der schulentlassenen Jugendlichen in die Industriegebiete an Rhein und Ruhr (hier scheint Bochum für viele Heringer und Widdershäuser das Ziel gewesen zu sein) zog, um von dort aus die Daheimgebliebenen „im armen Hessenland" finanziell zu unterstützen.
Ein typischer Westfalengänger war Balthasar Laun aus Heringen, er wurde am 10. Juni 1849 am Wehrbrunnen geboren. Er wurde nach der Lehre Zimmermannsgeselle und heiratete am 5. Juli 1874 Anna Katharina Laun geb. Jordan in Heringen.
Die Tochter Maria Elisabeth Laun wurde am 15. März 1878 in der Fuldischen Aue im Haus 132 geboren.
Er war gezwungen, als Bergmann auf der Zeche Carolinenglück, die zum Bochumer Verein im Bochumer Stadtteil Hamme gehörte, zu arbeiten.
Als seine Tochter alt genug war, um in Stellung zu gehen, nahm er sie mit nach Bochum und fand dort in Bärendorf im Stadtteil Weitmar für sie eine Anstellung als Köchin im Kinderheim. Maria Elisabeth Laun lernte dort einen Konrad kennen und wurde schwanger, am 07. November 1899 wurde Friedrich Conrad Laun in Bärendorf im Bochumer Stadtteil Weitmar geboren.
Das Dorf Widdershausen stellte für seine Bewohner einen überschaubaren kleinräumigen Lebensraum dar, der nach außen hin fast abgeschlossen war. Es war für sie das "Zentrum der Welt" in einem Ausmaß, wie es heute kaum noch vorstellbar scheint. Ein erst heute allmählich erlöschendes Ergebnis dieser relativen Abgeschlossenheit war auch die ungeheure Vielfalt der von Dorf zu Dorf im Detail sehr unterschiedlichen Dialekte. Sofern es sich nicht um Fuhrleute, Handwerker oder später die Saisonarbeiter im Ruhrgebiet ("Westfalengänger") handelte, verließen die meisten ihr Dorf nur selten für längere Zeit. Meine Mutter, Elisabeth Koch geb. Trieschmann, hat mir noch von alten Einwohnerinnen erzählt, die die Grenzen des Dorfes in ihrem ganzen Leben nicht verlassen haben. Eine Ausnahme stellte natürlich die Auswanderungsbewegung im 19. Jahrhundert dar, die aber mit dem Verlassen der Heimat auf Dauer verbunden war.
Auf der Zeche Carolinenglück, die zum Bochumer Verein im Bochumer Stadtteil Hamme gehörte, arbeitete der gelernte Zimmermann Balthasar Laun als Bergmann.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass all die Faktoren, die Kurhessens Armut prägten, nicht nur in Widdershausen in besonderer Weise zusammentrafen: ein rasches Bevölkerungswachstum mit einer insbesondere stark angewachsenen dörflichen Unterschicht und damit zusammenhängend ein Anstieg des Arbeitskräftepotenzials, ein Überwiegen von zu kleinen Besitzgrößen (immer kleinere Parzellen durch Erbteilung) und vollkommen unzureichenden Erwerbsmöglichkeiten, die vielen nur die Möglichkeit der Auswanderung oder zumindest einer zeitweisen auswärtigen Arbeitsaufnahme ließ.
Quellen:
Karl-Hermann Völker, Kleinbauern, Westfalengänger, soziale Demokraten 75 Jahre SPD in Bottendorf und Burgwald 1920-1995, Festschrift 1995
Uwe Schmidt, Die Hungersnot von 1846/47 in Kurhessen, Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG) Band 109 (2004), S. 191-223
Heinz Otto Gremme, Die Westfalengänger aus dem Vogelsberg: Weggang und Wiederkehr, Lauterbacher Sammlungen, ISSN 0455-4000, 2005