Altenteil - Widdershausen aktuelles Projekt

Chronik Widdershausen
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Altenteil

Chronik 2 > Landwirtschaft
Auszügler – Altenteil - Bauer im Ausgedinge
Das Altenteil - Ein Rentensystem aus längst vergessener Zeit
 
In vielen Kirchenbüchern, Sterbe- und Beerdigungsbüchern wird die Berufsbezeichnung Auszüg(l)er angegeben. Damit werden Personen bezeichnet, die Haus (und Hof) bereits an die nächste Generation weitergegeben haben, oder an Dritte verkauft haben, doch weiterhin dort ein lebenslanges Aufenthaltsrecht besitzen, das sogenannte „Altenteil“.
Das Altenteil des Hofes konnte ein Geschoß des gleichen Hauses oder einem separaten Gebäude (Auszügerhaus) bestehen. Er wurde dort vom neuen Besitzer, meist Sohn oder Schwiegersohn, mit einer vertraglich vereinbarten Menge an Naturalien (dem Auszug) versorgt.
Mit Auszugshaus, Austragshaus, Ausziehhaus, Ausnahmshaus, früher auch Abnahme oder Abnahmehaus wird ein auf einer Hofstätte errichtetes kleineres Gebäude bezeichnet, das für die Altbauern (Altenteiler) errichtet wurde und nach der Übergabe des Hofes an die Erben jenen als Wohnstätte dient.
Ehemaliges Anwesen der Land- und Gastwirtschaft Ruch später Führer in Widdershausen neben der evangelischen Kirche, Aufnahme vom 1912, zu diesem Hof gehört das Auszügerhaus
Ehemaliges Auszügerhaus der Land- und Gastwirtschaft Ruch später Führer in Widdershausen neben der evangelischen Kirche, seitliche Ansicht, vor Renovierung
Ehemaliges Auszügerhaus der Land- und Gastwirtschaft Ruch später Führer in Widdershausen neben der evangelischen Kirche, seitliche Ansicht, nach Renovierung
Auszügerhaus der
Land- und Gastwirtschaft Ruch später
Führer in Widdershausen neben der
evangelischen Kirche, Frontansicht, vor Renovierung
Ehemaliges Auszügerhaus der
Land- und Gastwirtschaft Ruch später
Führer in Widdershausen neben der
evangelischen Kirche, Frontansicht, nach der Renovierung
Die Auszüger verlassen in den seltensten Fällen den Hof, sondern nur die beheizbare Stube, die einzige, die in der großen Mehrzahl der Bauernhäuser vorhanden ist, und zieht in eine Kammer, behält sich jedoch vor, die warme Stube benutzen und in Krankheitsfällen sein Bett darin aufschlagen zu dürfen.
 
Die Rechte und Pflichten der „Übergeber“ und „Übernehmer“ wurden in Übergabeverträgen genau geregelt. Der Ackermann Heinrich Möller (1837-1905) aus Motzfeld beispielsweise übergab 1883 an seinen Schwiegersohn Johann Heinrich Deiseroth (1856-1932) aus Hilmes sein gesamtes Grundvermögen in Form von Haus Nr. 25, Hof mit Scheune und Stallungen, Landbesitz, „sowie sämtliches Vieh, Schiff und Geschirr [feststehender Ausdruck zur Beschreibung sämtlicher landwirtschaftlicher Gerätschaften], Dünger, Früchte, Fourage [Pferdefutter] und Stroh, sämtliche Mobilien, sämtliche Haus- und Küchengeräthe“ und alles weitere, was sich auf dem Hof befindet, gegen eine Bezahlung von 11.700 Mark, die sich z.T. aus der Übernahme verschiedener Schulden zusammensetzen. Deiseroth verpflichtete sich zur Übernahme aller Abgaben und Lasten auf dem Grundvermögen und stellte seinen Schwiegereltern eine Wohnung in der Nebenstube und die darüber liegenden Kammern zur Aufbewahrung ihres Besitzes zur Verfügung.
Das Auszüger-Ehepaar Georg Ruch (1841-1931) und Eva Barbara Ruch geb. Volkenand (1841-1931), hier bei ihrer Eisernen Hochzeit 1931, das Paar lebte noch viele Jahre im Auszügerhaus in Widdershausen, Georg Ruch war noch Soldat beim kurhessischen Husarenregiment Hessen-Homburg.
Altenteil – Übergabe an die nächste Generation - Vertragsunterschriften, Foto Friedrich Maurer, Der Handstreich, das Festsetzen des Leibgedings vor der Hochzeit, 1908
Falls sie nicht an einem Tische essen sollten, hatte er zudem Lebensmittel (darunter „eine fette Gans zu Martinitag“), Brennholz und dreißig Mark Taschengeld im Jahr bereitzustellen. Ferner wurden die Mitnutzung von Garten und Gerätschaften sowie ein ordentliches Begräbnis geregelt. Im vorliegenden Fall scheinen die Übergeber noch recht jung gewesen zu sein, denn es wurden auch Bestimmungen für die weiteren Kinder, die zum Teil noch nicht das Konfirmationsalter erreicht hatten, getroffen.
 
Natürlich war das Zusammenleben der beiden Parteien, das Einhalten der gegenseitigen Verpflichtungen nicht immer konfliktfrei – daher sind im Hessischen Landesarchiv mehrere Akten zu Rechtsstreitigkeiten wegen der Auszugsleistungen überliefert. Im bürgerlichen Rechtsstreit „Brod gegen Brod", 1899 vor dem Amtsgericht Schenklengsfeld verhandelt, forderte Justus Brod (1837-1922) aus Wüstfeld für seine dritte Ehefrau Anna Katherina Ritz (1834-1913) und sich selbst verschiedene Kleidungsstücke, die ihnen laut Übergabevertrag aus dem Jahr 1895 zustünden, seit einem Jahr jedoch nicht mehr von seinem Sohn Conrad Brod (1864-1921) zur Verfügung gestellt wurden, darunter eine Arbeitsjacke und Arbeitshose, eine Joppe, leinene Hemden und ein wollenes Halstuch für seine Frau.
Altes Ehepaar (sie strickt und er raucht Pfeife) vor ihrer Wohnung, Postkarte
Das Altenteil, Jaroslav Spillar (1869-1917), gemeinfrei, Wikimedia Commons
Bis ins 19. Jahrhundert hinein mussten sich die meisten Menschen keine großen Gedanken um Ihre Versorgung im Alter machen. Eine für heutige Verhältnisse grauenhaft geringe Lebenserwartung sorgte dafür, dass die Wenigsten jemals die Gelegenheit hatten, einen langen Lebensabend zu genießen.
Für diejenigen, denen es trotzdem gelang, war lange Zeit die Familie die wichtigste Vorsorge im Alter. In den bäuerlichen Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit war es üblich, dass die ältere Generation irgendwann den Hof an die jüngere abgab und sich aufs wohlverdiente Altenteil zurückzog. Dazugehörige Sitten und Gebräuche unterschieden sich vor allem regional.

In manchen Gebieten wurden die Höfe mehr oder weniger gleichmäßig auf alle oder zumindest mehrere Erben verteilt, wobei diese Erben auch die Versorgung der Eltern unter sich aufteilten. Dies hatte den Nachteil, dass sich Besitz und Wohlstand ebenfalls immer weiter aufteilten, oft bis zu dem Punkt, an dem die eigene Existenzgrundlage nicht mehr gewährleistet war – geschweige denn die Unterstützung älterer Generationen.
In anderen Regionen wiederum war es üblich, den Hof an einen einzelnen Erben, in den meisten Fällen an den ältesten Sohn, weiterzugeben. Dies hatte den Vorteil, dass der Familienbesitz in der Regel als Ganzes erhalten blieb, wodurch auch die Altersversorgung der älteren Generation stärker abgesichert wurde. Ebenfalls ermöglichte dieses Modell die Entstehung von „Traditionshöfen“, welche oft über Generationen im Besitz derselben Familie blieben. Benachteiligte Nachkommen heirateten entweder in andere Höfe ein, oder blieben Teil der Hofgemeinschaft. In Fällen, in denen es keine Erben gab, überschrieben die Landwirte ihren Besitz häufig an ein Kloster, in dem Sie als Gegenleistung im Alter versorgt wurden.

Landbesitz entschied im Mittelalter über die Lebensqualität im Alter
Ein festes Rentenalter gab es noch nicht. Häufig hatten die Ruheständler weiterhin bestimmte Aufgaben im gemeinsamen Haushalt zu erfüllen, manchmal besaßen sie noch einzelnes Vieh oder eine kleine Landparzelle.
Schlechter hatten es in vielen Regionen die Landarbeiter ohne eigenen Grundbesitz. Nur selten konnten diese im Alter permanent an dem Hof bleiben, an dem sie ihr Arbeitsleben verbracht hatten. In der Regel wurden sie in der ganzen Region herumgereicht, bekamen mal auf diesem, mal auf jenem Hof für einige Zeit ihr Gnadenbrot, bevor sie zum nächsten Hof weiterziehen mussten. So waren sie oft als unliebsame „nutzlose Esser“ stigmatisiert und mussten häufig Demütigungen durch ihre jeweiligen Versorger erleiden.
In städtischen Gesellschaften war eine familiäre Altersversorgung eher ungewöhnlich. Handwerker wurden im Alter zumindest in manchen Städten von ihren Zünften unterstützt.
Ansonsten musste privat vorgesorgt werden. Oft schlossen Stadtbewohner und Zünfte Leibrentenverträge oder Verträge mit Bürgerspitälern ab. Hierbei zahlten sie während ihres Arbeitslebens in entsprechende Kassen ein, um später im Alter versorgt zu sein. Stadtbewohner, die nicht in Zünften eingebunden waren oder nicht genug verdienten, um privat vorzusorgen, verbrachten ihren Lebensabend oft im Armenhaus, welche in der Regel aus Spenden wohlhabender Bürger*innen und von Zünften finanziert wurden. Aber auch diese Armenhäuser galten als Privileg für jene, die in einer Stadt geboren wurden. Zugezogenen Menschen blieb nach Verlust ihrer Arbeitskraft oft nur die Möglichkeit zu betteln, was wiederum in vielen Fällen dazu führte, dass sie aus der Stadt vertrieben wurden.
Das System der Leibrente entdeckten ab dem 17. und 18. Jahrhunderts auch viele Fürsten für sich. Diese nutzten Leibrentenverträge häufig als temporäre Geldquelle, um Kriege oder Bauprojekte zu finanzieren. Die Geldgeber erhielten dafür im Alter eine Rente. Die Zahlungsmoral vieler barocker Fürsten war bekanntermaßen eher schlecht, dennoch sind Fälle, in denen ein Landesherr die spätere Auszahlung verweigerte, nicht bekannt.

Staatliche Zuwendungen im Absolutismus
In die Zeit des Barocks fallen auch die Einrichtung erster gesetzlicher Pensionssysteme, zunächst jedoch nur für Beamte und Militärs. Beamtenpensionen fanden zunächst entweder in Form von Emeritierung oder einer „Gnadenpension“ statt. Im ersteren Fall behielt ein Beamter offiziell seine alte Funktion, de facto wurde diese jedoch von einem jüngeren weitergeführt, dessen Bezüge sich beide teilten. Dafür wurde dem jüngeren Beamten die Amtsnachfolge versprochen. Gnadenpensionen wiederum waren Geldzahlungen des Fürsten an seine pensionierten Beamten. Diese Zahlungen waren jedoch keineswegs gesetzlich festgelegt und konnten stark variieren, je nach Lust und Laune des Fürsten beziehungsweise Beliebtheit und wahrgenommenem Verdienst des Beamten.
Ähnlich verhielt es sich bei der Versorgung dienstunfähiger Soldaten: Hierbei ließ man sich zunächst von mehr oder minder bewährten Konzepten wie dem Armenhaus inspirieren und schuf Einrichtungen zur Unterbringung und Ernährung. Die erste ihrer Art in Europa war das „Hôtel des Invalides“, 1674 in Paris gegründet. Im deutschen Sprachraum entstanden 1705 in Preußen und 1728 in Österreich ähnliche Einrichtungen. Diese Invalidenhäuser erwiesen sich jedoch schon bald als zu klein. Als Alternative gewannen daher geringe Zahlungen an ehemalige Soldaten eine immer größere Bedeutung, welche jedoch zunächst eher den Charakter von Almosen hatten.
Rentenauszahlung im Hambuger Hauptpostgebäude, Holzstich, 1898, nach Zeichnung von Karl Müller (geb. 1865), Aus: Das Buch für Alle
Vereinigte Kunstinstitute Berlin, 1914, Deutsches Historisches Museum, Berlin, Inv.-Nr.: P 57/305
100 Jahre gesetzliche Rentenversicherung 1889-1989, Altersaufbau der deutschen Bevölkerung, Briefmarke, 100 Pfennige, Deutsche Bundespost, 1989
100 Jahre Sozialversicherung 1881-1981, Briefmarke, 60 Pfennige, Deutsche Bundespost, 1981
Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel
Das 19. Jahrhundert brachte gänzlich neue Formen der Arbeit und des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit sich. Immer mehr Menschen zog es in die Städte, wo sie zum Teil unter unwürdigsten Arbeits- und Lebensbedingungen in den neu entstehenden Fabriken Anstellung fanden. Auf der anderen Seite gab es zahlreiche Innovationen in der Medizin, die dafür sorgten, dass zum Ende des Jahrhunderts ein immer größerer Anteil der Bevölkerung ein höheres Alter erreichte.
Vor der Entstehung einer gesetzlichen Rentenversicherung gab es verschiedene Ansätze zur Altersversorgung der neuen Arbeiterschaft. Nicht zuletzt aufgrund der oft sehr schlechten Arbeitsbedingungen gründeten sich verschiedene Selbsthilfeorganisationen. Viele dieser Organisationen bemühten sich zwar – mit wechselndem Erfolg – ihre Mitglieder gegen krankheits- der unfallbedingte Berufsunfähigkeit abzusichern, jedoch ist nur ein Fall bekannt, in denen eine britische Minenarbeiterorganisation 1862 so etwas wie eine funktionierende Altersversorgung organisierte – wenngleich die letztlich ausgezahlte Rente sehr gering war. Versuche in diese Richtung gab es auch auf dem Kontinent einige: Die meisten scheiterten häufig am fehlenden Interesse der Arbeiterschaft selbst. Gerade in der Frühphase der Industrialisierung sorgten die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen dafür, dass trotz der medizinischen Innovationen weiterhin nur die wenigsten Arbeiter*innen das Rentenalter erreichten.
Diverse Arbeitgeber begannen, in ihren Betrieben Firmenpensionen einzuführen. Die hatte meist den Zweck, Angestellte enger an den Betrieb zu binden, die Arbeitsmoral zu erhöhen, und, in manchen Fällen, Wirtschaftsspionage durch unterbezahlte Arbeiter*innen und Angestellte zu unterbinden. Diese Pensionssysteme kamen vor allem in Bergbau- und Eisenbahngesellschaften, Banken und Versicherungen vor.
Solche privaten Initiativen alleine konnten jedoch der Altersarmut ganzer Bevölkerungsschichten nicht entgegenwirken. Gleichzeitig jedoch begannen Arbeiter*innen und Angestellte sich immer stärker zu organisieren und heute als selbstverständlich geltende Rechte einzufordern. Vor diesem Hintergrund sah sich auch ein erzkonservativer Reichskanzler Bismarck dazu gezwungen, gleichzeitig zu seinen repressiven Sozialistengesetzen die weltweit erste gesetzliche Renten- und Krankenversicherung einzuführen. 1883 verabschiedete der Reichstag das Gesetz für eine allgemeine Krankenversicherung, ein Jahr später eines zur Unfallversicherung, während die allgemeine Rentenversicherung schließlich 1889 eingeführt und ab 1891 ausgezahlt wurde.

Literatur:
 
  • Katrin Marx-Jaskulski, Marburg https://landesarchiv.hessen.de/nutzen-forschen/hilfsmittel-links/begriffe-auszuegler
  • J.F. Haun, Bauer und Gutsherr in Kursachsen, Straßburg 1891
  • Langenthal, Der Handstreich, das Festsetzen des Leibgedings vor der Hochzeit, 1908, in: Historische Bilddokumente  <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/bd/id/60-116> (Stand: 11.3.2021)
  • Mein Heimatland, Beilage der Hersfelder Zeitung, Band 10, 1931, Seite 16
  • Erik Dahmen, Altenteil, Leibrente, Gnadenpension - Sperre, Portal für Arbeit Soziales und Kultur, 2019
 
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