Werratalbahn 1905
Chronik 3 > Eisenbahn
Die Werratalbahn Vacha – Heringen 1905
Die Entdeckung der Kalivorkommen im Werratal Ende des 19. Jahrhunderts und das daraus folgende Abteufen der Schächte Grimberg bei Heringen 1899 und Hattorf bei Philippsthal 1905, beide auf dem hessischen Teil des Werratales gelegen, mögen die Entscheidung beeinflusst haben, eine Eisenbahnverbindung durch das Werratal von Gerstungen über Heringen nach Vacha und dann weiter bis Salzungen zu schaffen.
Gerstungen war als Ausgangspunkt dieser Bahnlinie deshalb von Interesse, weil es an der schon 1849 fertiggestellten Friedrich-Wilhelm-Nordbahn von Karlshafen über Kassel, Melsungen, Bebra nach Eisenach lag und 1868 die Verbindung von Bebra nach Frankfurt am Main fertiggestellt worden war.
Im Sommer 1904 konnte deshalb bereits die Teilstrecke Gerstungen-Dankmarshausen-Widdershausen-Heringen eröffnet werden, während am 1. Oktober 1905 die Einweihung der Strecke Heringen-Vacha erfolgte. Bis 1906 wurden dann die Bauarbeiten für die Anschlußstrecke nach Salzungen abgeschlossen.

Der Bahnhof von Vacha, ab hier startete der Extrazug zur Einweihung der Werratalbahn 1905
Für die Bewohner eines Teils des Werratales war die Fahrt des ersten Zuges von Vacha nach Heringen und zurück ein großes Ereignis, welches in der am 2. Oktober 1905 erschienenen Ausgabe der „Rhön-Zeitung“, dem früheren General-Anzeiger für die Rhön und das südwestthüringische Kali-Industriegebiet, entsprechend gewürdigt wurde.
Aus Stadt und Land – Vacha, 2. Oktober 1905
Die Einweihung der Teilstrecke Heringen-Vacha unserer neuen Bahnlinie machte den vergangenen Sonnabend für Groß und Klein zu einem Feiertag. Um 11 Uhr vormittags setzte sich vom hiesigen Bahnhof aus, der festlich geschmückte Extrazug in Bewegung, von Teilnehmern dicht gefüllt und bei der Weiterfahrt von hellem Jubel begrüßt. Langsam nimmt er seinen Weg über das Oechsetal, durch den Stoff, und wie von einer hohen Warte aus fliegt der Blick über die Stadt und die liebliche Gegend, welche mit dem heutigen Tage dem großen Verkehr erschlossen ist.
Vor dem früheren alten Wäldchen, welches der Bahnlinie vollständig zum Opfer fallen musste, überschreitet der Schienenweg die Hersfelder Straße, gleich dahinter wird an der Straße der Stein mit dem preußischen Adler sichtbar, wir überschreiten die Landesgrenze und befinden uns in der nächsten Sekunde auf preußischem Gebiet. Wie schön ist doch der Blick auf dieses Fleckchen Erde: unter uns schäumt die Werra übers Wehr, dahinter grüßen uns die Parkanlagen des Schlosses, die Holzstofffabrik des Herrn Schrott und weiter zurück, etwas nach rechts, guckt uns dem herbstlich gefärbten Laube die Villa Rhöneck. Jetzt wird abwärts die Werrabrücke sichtbar, wir überschreiten beim Zollhaus abermals die Straße, noch eine kurze Wegstrecke und laut klingt die Stimme des Zugführers: „Philippsthal!“ Geräuschlos ist der Zug eingefahren und ebenso geräuschlos kommt er zum Stehen. Es ist so ganz anders wie auf der Feldbahn, wo es schlinkert und stößt und wo man beim Halten sein Gegenüber im voraus um Entschuldigung bittet, dass man im nächsten Augenblick auf seinen Schoß geworfen wird.

Philippsthal am Zollhaus, hier führt die neue Werratalbahn von 1905 vorbei.

Der Bahnhof von Philippsthal, hier hielt der Extrazug und es stiegen weitere Festgäste zur Einweihung der Werratalbahn zu 1905
„Philippsthal!“
Das Wort des Zugführers klingt wie Musik und das nette Bahnhofsgebäude, welches
im Schmucke der Blumen, Fahnen, Wimpel und Girlanden vor uns steht, blickt uns
so freundlich an, dass uns das Herz im Leibe lacht. Es steigen hier weitere
Festteilnehmer ein, ein paar kurze Begrüßungsworte werden ausgetauscht und ehe
wir uns versehen, ist der Zug schon wieder in Bewegung. Wir überschreiten das
Ulstertal, links werden die Ringofen-Ziegelei und dicht dahinter die
Werksanlagen des Kalibergwerks „Hattorf“ sichtbar. Wie Pilze schießen da die
Gebäude aus der Erde. Im Vordergrund befindet sich die Schachtanlage, links
oben am Berge steht ein Beamtenwohnhaus, welches demnächst schon bezogen werden
kann, in der Mitte, hinter dem Schacht, die Büro- und Magazingebäude und
rechts, ganz nahe am Wald, befindet sich das Villengebäude für den Direktor des
Werkes im Bau. Das Werk verspricht eine weitere Zierde des Werratales zu
werden, hunderte von Arbeitern finden dauernden Verdienst auf demselben und das
Geld wird in seinem Kreislauf auch unserer Gegend sehr zugute kommen.
Der Zug
dampft nunmehr an Röhrigshof und dem freundlichen Herrensitz Nippa vorbei und
in wenigen Minuten halten wir auf Station Heimboldshausen. Ein gleichfalls
schmuckes Bahnhofsgebäude, durch Fichtenreiser und Tannen geschmückt, steht vor
uns. Es herrscht eine gewisse Einheitlichkeit im Bau dieser Stationsgebäude.
Überall derselbe Stil, aber doch wieder andere Formen; nicht nüchtern und
steif, sondern freundlich in Formen und Farben, halb altdeutsch, halb dem Schweizerstil
ähnelnd, welche Bauart sich unserer Gebirgsgegend sehr gut anpaßt. Und das
Ganze ist neu und eigenartig und man könnte glauben, ein Künstler habe die
Entwürfe gemacht, denn sie verraten hohen Schönheitssinn und eigenartigen Geist.

Werratal bei Heimboldshausen mit Blick auf die Bahnlinie der Werratalbahn Richtung Hattorf 1959
Nach
kurzem Aufenthalt geht es weiter. Zur Rechten windet sich die Werra, welche
näher und näher an den Schienenweg herankommt, zur Linken fällt der Höhenzug
steil ab, teilweise ist der Weg für die Bahnlinie in den Fels gesprengt. Bis zur
Haltestelle Lengers hält sich die Bahn dicht an dem Bergrücken linksseitig der
Werra und erst dicht vor Heringen betritt sie wieder das freie Wiesengelände.
Bei
Lengers wird das Auge von einem eigenartigen Gebäude gefesselt. Es ist dies
eine der elektrischen Kraftstationen des Kalibergwerkes Wintershall, welche die
Wasserkraft der Werra in elektrische Energie umsetzt und durch eine starke
Drahtleitung nach dem bei Heringen gelegenen Bergwerke zum Betriebe der
Fördermaschine und Beleuchtung zuführt. Das ganze Gebäude ist aus Beton
gestampft und das schwimmende Wehr, die Schleusenkammer, namentlich aber die
Turbinen und elektrischen Maschinen sind äußerst sehenswert.
Nach
kurzer Zeit hält der Zug auf Station Heringen. Die Festteilnehmer verlassen die
Abteile, man nimmt das Stationsgebäude in Augenschein, wirft einen Blick auf
das Kaliwerk Wintershall, die dahinter liegenden freundlichen Villen und
Neubauten, um sodann in dem in nächster Nähe gelegenen Bierpalast der
Engelhardtschen Brauerei in Hersfeld zur Einnahme einer Erfrischung Einkehr zu
halten. Im Nu verteilen sich die etwa 250 Teilnehmer über alle Wirtschaftsräume
des großen Hotels.

Elektrischen Kraftstation des Kalibergwerkes Wintershall in Lengers, welche die Wasserkraft der Werra in elektrische Energie umsetzt.
Herr Fehling hatte einen solchen Ansturm wohl nicht erwartet, sonst würde er sich besser vorgesehen haben. Das Buffet wurde nach Bier, die Küche nach belegten Brötchen bestürmt, denn der Aufenthalt in Heringen war nur von kurzer Dauer. Schließlich bekam aber doch jeder das Gewünschte, worauf die Teilnehmer wieder zurück nach dem Bahnhof fluteten, wo man dem Eintreffen des Gerstunger Personenzuges entgegen sah. Als derselbe gegen 12 Uhr 25 eintraf, setzte ein starker Regenschauer ein. Als Vertreter der weimarischen Staatsregierung waren die Herren Regierungsrat Dr. von Boineburg-Weimar, Bezirksdirektor Dr. Vermehren-Dermbach und der Großherzogliche Herr Landbaumeister Jänisch-Dermbach anwesend. Von der königlichen Eisenbahndirektion Erfurt trafen die Herren Geheimer Baurat Rücker (als Vertreter des Eisenbahn-Direktions-Präsidenten), Regierungsrat Melchers und Eisenbahnbau- und Betriebsinspektor Düwahl ein, als Vertreter des Kreises Hersfeld waren die Herren Regierungsassessor von Cornelius, Kreissekretär Dahmer und drei Kreisdeputierte erschienen. Es fand allseitige freundliche Begrüßung statt. Eine Ansprache des Herrn Pfarrers Martin sowie der Gesang der Schuljugend musste des strömenden Regens wegen unterbleiben. Um 12 Uhr 30 Minuten setzte sich der Extrazug zur Rückfahrt in Bewegung.
In Heimboldshausen sang die Schuljugend ein Begrüßungslied und auf Station Philippsthal hielt Herr Pfarrer Heßler eine zu Herzen gehende Ansprache, in welcher er der Freude über die Eröffnung der Bahn zum Ausdruck brachte. Die Schuljugend sang auch hier ein Festlied, worauf der Zug seine Fahrt nach Vacha fortsetzte.
Bahnhof Heringen an der Werra, hier hielt der Extrazug zur Einweihung der neuen Werratalbahn 1905, die Festgäste nahmen einen Imbiß ein und stiegen in den Zug aus Gerstungen, der die Festgäste zurück nach Vacha brachte.
Eine besondere Überraschung hatte übrigens noch die Gewerkschaft Hattorf geboten. Als der Festzug bei den Werksanlagen vorbeifuhr, hatten sämtliche Arbeiter in einer langen Linie Paradeaufstellung genommen und auf der Höhe wurden einige Böllerschüsse gelöst. Auf dem hiesigen Bahnhof ergriff Herr Bürgermeister Schimmelpfeng das Wort zu einer kurzen Begrüßung, worin er den Dank für die Fertigstellung der neuen Bahn zum Ausdruck brachte.
Der strömende Regen trieb auch hier zur schnellen Beendigung der Feier im Freien. Um 2 Uhr fand im Gasthof Zum Adler das Festessen statt, an dem sich etwa 80 Herren beteiligten.
Herr Bezirksdirektor Dr. Vermehren-Dermbach eröffnete die Reihe der Toaste mit einem Hoch auf den Kaiser, mit welchem er einen Dank an alle diejenigen verband, welche zur Bauausführung der neuen Bahnlinie beigetragen. Herr Regierungsrat Dr. von Boineburg-Weimar toastete auf die Königlich preußischen Beamten, Herr Regierungsassessor von Cornelius auf die von Weimar. Herr Oberamtsrichter Dr. Krug, unser derzeitiger Gemeinderatsvorsitzender, verband mit dem Ausdruck der Freude über die Eröffnung der Bahn einen kurzen Rückblick. Durch die Kurzsichtigkeit der Gemeindevertretung sei vor mehreren Jahrzehnten die Ansiedelung eines neuen Indutriezweiges am hiesigen Platze vereitelt worden und unsere Stadt sei infolgedessen nicht fortgeschritten. Von der neuen Bahn und der hier gleichzeitig aufblühenden Kaliindustrie erwarte man aber auch für unser städtisches Gemeinwesen eine Periode des Aufschwungs…“

Gasthof und Hotel Glückauf am Bahnhof in Heringen, hier war der Bierpalast der Engelhardtschen Brauerei 1905 untergebracht.

Hotel ADLER am Marktplatz in Vacha, hier fand am 2. Oktober 1905 um 14 Uhr das Festessen statt, an dem sich etwa 80 Herren beteiligten.
Quellen:
Rhönzeitung, Hoßfeldsche Druckerei, Buch- und Offsetdruck, Philippsthal, Jahrgang 1905
Werner und Anneliese Landeck, Philippsthal, 90 Jahre Werratalbahn, Heimatkalender Kreis Hersfeld-Rotenburg,
Seite 83-86, 1995