Der Topf ist voll
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"Der Topf ist voll"
DER SPIEGEL 45/1992
Aus Mittelgebirgsquellen sprudelt Meerwasser, auf Viehweiden siedeln sich Dünenpflanzen an. Die Natur spielt verrückt an der hessisch-thüringischen Grenze. Ursache ist ein unterirdischer Salzsee aus Abwässern der Kaliindustrie. Mehr Salzlauge soll folgen. Naturschützer fürchten eine Ökokatastrophe.
Am Bußtag war's, als Pfarrer Reinhart Wachter in seiner Predigt auf das Salz zu sprechen kam. Tags darauf erhielt er einen Anruf.
An den Wortlaut des Telefonats erinnert sich der Kirchenmann aus dem nordhessischen Dorf Widdershausen noch gut: "Wenn Sie hier länger bleiben wollen", habe ihm der Anrufer, ein leitender Mitarbeiter des Kasseler Unternehmens Kali und Salz AG, bedeutet, "dann lassen Sie so was in Zukunft sein."
Salz ist ein heikles Thema in der Ortschaft am Werraufer. Es nagt an der Kirchturmsmauer und frißt sich durch die Hauskeller, läßt Rohrleitungen rosten und Mauersteine zerbröseln - im Tiefparterre des 1400-Einwohner-Dorfes, das zur Großgemeinde Heringen gehört, spielen sich Dinge ab, die nach Meinung von Pastor Wachter "auf Kosten der Schöpfung" gehen.
Die Kalihalde oberhalb von Widdershausen, einem Stadtteil von Heringen an der Werra.
Beim Kaufmann platzen schon die Schaufensterscheiben, so sehr ist das Haus in Bewegung geraten durch den Salzfraß im Fundament. Dem Kiesgrubenbesitzer wurden die Geschäfte versalzen: Was seine Maschinen aus einem Baggersee in der Werraaue fördern, taugt nicht mal zur Betonherstellung.
Und auch die Kanalisation der Ortschaft ist, kaum repariert, schon wieder erneuerungsbedürftig. Derzeit läßt die Gemeinde extra widerstandsfähige Kunststoffrohre verlegen: Die neuen Leitungen sollen - verkehrte Welt - das Abwasser vor dem aggressiven Grundwasser schützen.
Eine Investition von 20 Millionen Mark. Daß die Dörfler allein dafür aufkommen müssen, ist jedoch kaum zu befürchten. In der Gemeindekasse wird vielmehr der Eingang einer größeren Geldsumme erwartet, entrichtet von einem auf Diskretion bedachten Spender: der Kasseler Kali und Salz AG.
Das Unternehmen, größter Arbeitgeber der Region, hat, gleichsam als Wahrzeichen, einen riesigen weißen Salzberg aus Kaliabfällen bei Widdershausen aufgetürmt. Seit vielen Jahren pumpt die Firma aber auch Salzlaugen in den Untergrund. Durch die angeblich "schadlose Beseitigung" (ein Firmensprecher) der bei der Düngemittelproduktion anfallenden Kaliabwässer bildete sich eine unterirdische Salzblase, die mittlerweile ein Gebiet von etwa 300 Quadratkilometern ausfüllt.
So hat sich, weltweit einzigartig, 400 Meter tief unter dem entlegenen Landstrich zwischen Bad Hersfeld und Eisenach (siehe Karte) ein riesiger Salzsee ausgebreitet - das zweitgrößte deutsche Binnengewässer nach dem Bodensee.
Und eine ökologische Zeitbombe mit kaum abschätzbaren Folgen: Nach einer schon in den siebziger Jahren zusammengestellten internen "Gefährdungsliste" des hessischen Umweltministeriums sind für 424 Trinkwasserbrunnen Salzeinbrüche aus dem Untertagespeicher nicht auszuschließen. Als potentiell bedroht gelten auch die Heilquellen des Staatsbades Bad Hersfeld.
Doch die Kali und Salz AG, eine Tochtergesellschaft des Chemieriesen BASF, möchte offiziell noch immer glauben machen, sie habe nicht einmal mit dem Salzfraß in den Widdershäuser Hauskellern etwas zu tun. Wie zum Beleg verweist der Umweltbeauftragte des Unternehmens, Hans-Joachim Scharf, darauf, "schon die Äbte von Fulda" hätten jede Menge Salz aus nordhessischen Quellwässern gesiebt.
Arglos geben sich auch die Beamten des grünen Umweltministers Joschka Fischer: Noch 1991 verlängerten sie die Einleiterlaubnis für den Kalikonzern auf weitere fünf Jahre. Warnungen von Ökoverbänden, örtlichen Naturschützern und Wasserkontrolleuren aus dem eigenen Hause blieben ungehört.
Sträflicher Leichtsinn oder eilfertiger Industriegehorsam? Fischers Ökobürokraten, meint Hartmut Mai vom Naturschutzbund Deutschland, hätten wohl stets "alle Augen zugedrückt".
Denn über die Herkunft der Salzschäden können spätestens seit der Wiedervereinigung kaum mehr Zweifel bestehen: Wie so viele bequeme Schuldzuweisungen, so war mit der deutschen Einheit auch die Mär von der alleinigen DDR-Verantwortung für die Werraversalzung geplatzt.
Lautstark hatten die Westdeutschen bis dahin den Umweltfrevel der Kalikumpel vom anderen Werraufer beklagt: Die drei volkseigenen Kombinate kippten Jahr für Jahr die gigantische Menge von bis zu zwölf Millionen Tonnen Salzabwässern in den Strom. Noch im vergangenen Jahr, nach Schließung eines der Werke, strudelten aus Thüringen jede Sekunde 130 Kilogramm Salz die Werra herunter.
Kaliwerke und Versenkstandorte im Werratal
Wenn die DDR-Vertreter in den deutsch-deutschen Umweltverhandlungen ihrerseits Meßergebnisse vorlegten, wonach auch der Westen als Brunnenvergifter überführt schien, blockten die Westexperten ab: Derlei Anschuldigungen seien nur als "sozialistische Propaganda" zu verstehen.
Doch an den Vorwürfen war was dran. Rund 20 Kilogramm Salz pro Sekunde, hochgerechnet etwa 1700 Tonnen täglich, drücken, einem hessischthüringischen Meßprogramm von 1991 zufolge, allein in Höhe des Örtchens Widdershausen vom Land her in den Strom. Bis dahin hatten die hessischen Behörden immer nur die Salzmengen eingeräumt, die, trotz moderner Techniken, auch aus den westdeutschen Kalibergwerken noch direkt in die Werra rauschen: 17 Kilo in der Sekunde.
Die Herkunft der neu entdeckten Salzlaugen, die mehr als ein Zehntel der gesamten Werrabelastung ausmachen, verstanden die Westexperten dann aber wieder zu vernebeln. Etwaige Verursacher seien "nicht näher zu lokalisieren", diktierten die blinden Hessen ins Meßprotokoll, die Brühe gelange vermutlich "diffus durch Grundwasserübertritte" in den Fluß.
Dabei betrachtet selbst der Wiesbadener Geologe Alfred Finkenwirth, Gutachter der Landesregierung und hartnäckiger Befürworter der Laugenverpressung, ein "Mixtum compositum" als ursächlich für die "sogenannten diffusen Eintragungen" (Finkenwirth).
Gemeint sind im Untergrund vagabundierende Salzlaugen, die, wie Finkenwirth ahnt, aus früheren "technisch noch nicht so perfekten Versenktätigkeiten" der westdeutschen Kaliwerke stammen müßten.
Schon seit 1895 fördern die Salzbergwerke an der Werra Mineralsalze aus dem Untergrund, in den beiden Betrieben der Kali und Salz AG sind es heute etwa zehn Millionen Tonnen im Jahr. Nur ein Viertel des geförderten Rohmaterials ist jedoch zur Herstellung von Thomaskali, Streusalz und Magnesiumdünger brauchbar. Der Rest fällt als Abfall an, zu großen Teilen flüssig.
Um die Werra zu schonen, richteten die Kaliwerker schon in den zwanziger Jahren beiderseits des Flusses die ersten Schluckbrunnen ein, 400 Meter tiefe Bohrlöcher, durch die das Abwasser unter Druck nach unten gepreßt wird.
Annähernd 900 Millionen Kubikmeter Salzlauge, erheblich mehr Flüssigkeit, als in die fünf größten deutschen Stauseen an Wasser paßt, wurden seither ins Erdreich gepumpt. Zwar konnte die Kali AG ihre Abwassermengen durch die Einführung eines elektrostatischen Trennverfahrens (Patentname: Esta), bei dem vorwiegend trockene Abfälle entstehen, enorm reduzieren. Noch immer werden jedoch etwa zehn Millionen Kubikmeter Salzbrühe pro Jahr in den Untergrund gedrückt.
200 Meter unter der Meeresoberfläche umspült die Lauge ein wild zerklüftetes Gebirge, den sogenannten Plattendolomit. Die unterirdische Berglandschaft, in der auch natürliche Salzwässer zirkulieren, wird nach oben von einer dicken Tonschicht überdeckt. Die ist, urteilt der Geologiedirektor Finkenwirth, "im Prinzip dicht".
Doch seien "hier und da Leckagen" oder "Kurzschlüsse" durchaus möglich. Finkenwirth: "Wir haben immer darauf hingewiesen, daß gewisse Risiken bestehen."
Mögliche Schäden werden auch in einem für die hessische Landesregierung erarbeiteten Rechtsgutachten nicht verhehlt. Eine "katastrophenartige Entwicklung", die große Grundwasserstöcke "gewissermaßen über Nacht zur Opferstrecke werden läßt", hält der Gutachter derzeit für ausgeschlossen.
"Potentiell betroffenen Gemeinden" in der Region werden jedoch vorsorglich Notstandspläne empfohlen, um im Ernstfall "die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser zu gewährleisten". Und wenn gar die Heilquellen des Staatsbades Bad Hersfeld wegen Übersalzung ausfallen sollten, müsse "die Fortsetzung des Badebetriebes" mittels geeigneter "Rettungsmaßnahmen" gesichert werden.
Vereinzelt wurden schon Trinkwasserbrunnen abgeschaltet, doch die Katastrophenschutzpläne konnten bislang in der Schublade bleiben (Finkenwirth: "Toi, toi, toi, bisher ist nix passiert"). Hingegen trat im benachbarten Thüringen bereits vor mehr als 20 Jahren der Ernstfall ein. Damals quollen ins Erdreich versenkte Laugen plötzlich aus den Feldern, zerstörten Weideland und griffen Expertenberichten zufolge die Wasserversorgung von Eisenach an.
So groß waren die Probleme, daß die DDR 1968 kurzerhand ihre Schluckbrunnen schloß. Neuerdings werden alte Bohrlöcher jedoch wieder rekonstruiert, denn nun soll die Versenktechnik auch im Osten in großem Stil betrieben werden, als Kernstück eines von Bund und Ländern beschlossenen Programmes zur Werraentsalzung.
Einst waren dem Honecker-Regime stattliche Summen in Aussicht gestellt worden, um das "schwerste Umweltproblem mit der DDR" (so der seinerzeit zuständige Bundesinnenminister Gerhart Baum) zu lösen. Als es nach der Wende jedoch wirklich galt, schnurrte das Angebot wie ein Luftballon, dem die Luft ausgeht, zusammen: Von 1,3 Milliarden (für eine Ende der siebziger Jahre geplante Pipeline zur Nordsee) auf nunmehr schlappe 150 Millionen Mark.
Die Methode Schluckbrunnen erscheint augenblicklich als kostengünstige Alternative. Doch zu welchem Preis?
Schon jetzt deuten sich gefährliche Entwicklungen an. In der Region östlich von Bad Hersfeld hat sich amtlichen Messungen zufolge bereits der Chloridspiegel in Oberflächengewässern erhöht. Einige kleinere Bäche, aber auch die Fulda, sind merklich salziger geworden.
Die Natur spielt verrückt: Auf Viehweiden nahe Widdershausen wuchern Dünengewächse wie der Meerstranddreizack, die Mähnengerste und die Salzteichsimse, Pflanzen, wie sie normalerweise nur in Küstennähe vorkommen. Bei Bad Hersfeld fanden Botaniker die an Nord- und Ostsee heimische Spergularia marina (Salzschuppenmiere). Nicht weit entfernt sprudelt Quellwasser aus der Erde, das (mit 30 000 Milligramm Chloridgehalt pro Liter) weit salziger ist als Nordseewasser.
"Wo früher Süßwasser war", berichtet Heinrich Vollrath, Chef des Instituts für Grünlandsoziologie in Bad Hersfeld, sei nun ein "flächenhafter Aufstieg von Salzwasser" zu beobachten. Die simple Erklärung des Botanikprofessors lautet: "Der Topf da unten ist voll."
"Wie kann man nur", fragt Vollrath entsetzt, "einen so großen Grundwasserkörper so versauen?" Schwer einzuschätzen sei, was passieren könne, wenn zusätzlich noch etwa 400 000 Kubikmeter hochkonzentrierte Thüringer Abwasserlaugen pro Jahr in den Untertagespeicher gepumpt würden. Vollrath: "Dann haben wir hier stellenweise eine völlig veränderte Vegetation, und vom Trinkwasser braucht niemand mehr zu reden."
Noch ist umstritten, ob die bislang beobachteten Salzaustritte auf Feldern und Wiesen schon die Abwasserlaugen der Kali AG enthalten. Firmensprecher Scharf wird nicht müde, immer wieder auf die von alters her bekannten natürlichen Salzvorkommen in der Region aufmerksam zu machen - "das hat mit uns wirklich nichts zu tun".
Aus der Sicht des Kalimannes ist die Speicherkapazität des Plattendolomits noch längst nicht erschöpft. Nach Berechnungen aus den siebziger Jahren müsse in dem unterirdischen Gebirgsmassiv noch für etwa 400 Millionen Kubikmeter Abwasser Platz sein. Genug, meint Scharf, um es noch jahrzehntelang vollzupumpen.
Wenn aus dem Untertagespeicher Wasser hervortrete, so könne es sich nur um natürliches Mineralwasser handeln, das von der schwereren Kalilauge verdrängt werde. "Von uns", behauptet der Umweltbeauftragte vage, "ist da wirklich nicht viel dabei."
Doch der Nachweis der Kalilaugen im Quellwasser ist relativ einfach. Sie hinterlassen eine verräterische Spur: In ihrer chemischen Zusammensetzung ist das Verhältnis zwischen Kalzium- und Magnesiumanteilen anders als bei natürlichem Salzwasser.
So konnte der Grünlandforscher Vollrath schnell fündig werden. Für eine noch unveröffentlichte Studie verglich er die behördlichen Wasseranalysen der letzten 30 Jahre miteinander. Die dokumentierte Mineralienzusammensetzung der einzelnen Proben weist klar in eine Richtung: Die Kalilauge in dem untersuchten Quellwasser wird immer konzentrierter.
Über eine schleichende Aufsalzung der Region sorgten sich auch schon die Wasserkontrolleure der Hessischen Landesanstalt für Umwelt, die dem grünen Minister Fischer unterstehen. Die Behörde erhob, "aus ökologischen Gründen", vergangenes Jahr massive Einwände gegen eine simple Fortschreibung der Versenkgenehmigung für die Kali und Salz AG, wie sie das Kasseler Regierungspräsidium (fachlicher Dienstherr: ebenfalls Fischer) plante.
Eine Zeitlang rangelten die Beamten miteinander. Als die Umweltbeamten jedoch störrisch auf ihren Auflagen beharrten, entschlossen sich die Kollegen beim Regierungspräsidium (RP) zu einem für penible Beamte äußerst ungewöhnlichen Verfahren.
Am 6. Februar 1991 rief ein RP-Mitarbeiter in der Landesanstalt an. Hernach notierte er sich, die Bedenken der Ökobeamten seien im Gespräch ausgeräumt worden. Die handschriftliche Telefonnotiz wanderte als offizielle Rücknahme der Einwände zu den Akten, der Erteilung der Genehmigung stand nichts mehr im Wege.
Die Eilfertigkeit der RP-Beamten könnte sich aus einem Brief der Kali und Salz AG erklären. Darin hatte die Firma unverhohlen gedroht, die von der Landesanstalt geforderten Umweltauflagen würden "zweifellos das Ende der Kaliindustrie an der Werra" bedeuten.
Damit aber sei der "Verlust aller Arbeitsplätze" verbunden, behaupteten die Kaliherren und rechneten großzügig die Anzahl der Beschäftigten auf "z.Zt. 8000!" hoch (tatsächlicher derzeitiger Beschäftigtenstand: 6823, davon 4218 im hessischen Kalibereich).
Die Drohgebärde mit der angeblichen Gefährdung von Arbeitsplätzen zeitigt auch in der Gegend um Widdershausen Wirkung. Keiner der Betroffenen und Kritiker möchte hier namentlich genannt werden. Wenn von den Salzschäden oder, noch pikanter, von den Entschädigungen die Rede ist, schauen sich die Gesprächspartner mißtrauisch nach eventuellen Mithörern um. Ob Schwager, Schwester oder Schwiegervater - jeder hat irgendeinen Verwandten bei der Firma, der Schwierigkeiten bekommen könnte.
So gibt es viel Gemunkel. Über Hausbesitzer, die für den Salzfraß entschädigt werden; Bauern, denen die Kali und Salz AG regelmäßig Wiesengeld zahlt, und über den Kiesgrubenbesitzer, der zwei Millionen Mark bekommen haben soll. "Hier versucht sich jeder, im stillen mit der Firma zu arrangieren", sagt der Pastor.
Nur der Kirchenmann nicht: Vor drei Jahren sammelte er zusammen mit anderen Unterschriften gegen die geplante Erweiterung des großen weißen Salzbergs, der überirdischen Abfallhalde von Kali und Salz. Genau 331 Widdershäuser Bürger, beinahe ein Drittel der Dorfbewohner, unterzeichneten die Protestresolution. Bei der Weiterleitung an die zuständige Genehmigungsbehörde, das Regierungspräsidium in Kassel, bat der Pastor, die Namen "sehr vertraulich" zu behandeln, denn die Bürger hätten "Angst, Pressionen erleiden zu müssen".
Die Kopien der Unterschriften liegen, sicher verwahrt, in des Pfarrers Schreibstube: Er hat sie seither keiner Seele gezeigt. Vom Regierungspräsidium sei nie eine Reaktion gekommen. Kürzlich wurde jedoch bekannt, daß der RP bereits den Raumordnungsplan zugunsten des Kaliwerks verändert hat.
"Womöglich", geht es dem Pastor plötzlich durch den Kopf, "sind die Unterschriften gleich weitergereicht worden?"