Leben mit Kali - Widdershausen aktuelles Projekt

Chronik Widdershausen
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Leben mit Kali

Chronik 3 > Bergbau
Rübenernte in Widdershausen, Kuhgespann geführt von Anna Thenert und begleitet von Elisabeth Trieschmann
Heuernte in Widdershausen, hier Kuhgespann der Familie Hans Schäfer vom Ölberg
Leben mit Kali
.... die Lebenshaltung hat sich bedeutend gebessert..."
Das Werra-Gebiet vor der Ansiedlung der Kaliindustrie
Vor dem Auftreten der Kaliindustrie war das Werra-Gebiet eine überwiegend kleinbäuerlich geprägte Region. Die lehmig-sandigen und nährstoffarmen Böden, die nur in geringem Maße die Niederschläge speichern konnten, reichten in den meisten Fällen als Lebensgrundlage nicht aus, so daß insbesondere die Familien der Kleinbauern und Tagelöhner auf zusätzliche Erwerbsmöglichkeiten angewiesen waren.
Eine der wichtigsten Nebenerwerbsmöglichkeiten bildete vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Leinen- und Wollweberei, die im Verlagssystem betrieben wurde. Diese Einnahmequelle versiegte jedoch schnell, als infolge der Kontinentalsperre die überseeischen Absatzmärkte verloren gingen und zunehmend Konkurrenz in der industriellen Fertigung von Textilwaren entstand.
Kunstdünger aus der Streuschüssel, Kleinbauer Wilhelm Gaedke *1913 in Widdershausen um 1960, im Hintergrund die Hornungskuppe und der Kessel noch ohne Halde 4 (Foto: Pfarrer H. G. Kirchner)
Beispielhaft für diese Entwicklung ist der Ort Schenklengsfeld, wo die Zahl in der Leinenweberei und Wollspinnerei Beschäftigten von insgesamt 28 im Jahr 1828 auf nur noch einen Leinenweber im Jahr 1860 zurückging.

Verschärft wurde diese Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse noch dadurch, daß wie im übrigen Deutschland gleichzeitig die Bevölkerung stark anwuchsund die Region in der Mitte des 19. Jahrhunderts zudem von mehreren Mißernten betroffen war.

Der hoffnungslosen wirtschaftlichen Situation versuchten die Menschen einerseits durch Auswanderung nach Übersee, andererseits durch Saisonarbeit in anderen Regionen zu begegnen. In den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts verließen allein aus den Ämtern Friedewald und Schenklengsfeld 662 Personen ihre Heimat und wanderten nach Übersee aus, so daß in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Bevölkerungszahl dort trotz des Geburtenüberschusses stetig zurückging.Diese Entwicklung sollte sich erst mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse infolge der Ansiedlung der Kaliindustrie umkehren: Zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wuchs die Bevölkerung um 60 Prozent und glich damit die Verluste des 19. Jahrhunderts mehr als aus. Für die in der Region verbleibenden Kleinbauern und Tagelöhner reichten die ohnehin nur unzureichend vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten vor Ort zumeist nicht aus, das dringend benötigte zusätzliche Einkommen zu verdienen. Beschäftigungsmöglichkeiten waren hier allenfalls im stagnierenden Bauhandwerk oder beim Holzfällen vorhanden. Die größeren landwirtschaftlichen Bauernhöfe und Gutsbetriebe suchten zwar ständig Landarbeiter, zahlten aber so niedrige Löhne, daß die einheimische Bevölkerung es vorzog, während der Sommermonate in anderen Gegenden Deutschlands Beschäftigung zu suchen. Während die Frauen und Kinder die Höfe allein versorgten, zogen die Männer im Herbst in die Ziegeleien Westfalens (sogenanntes Westfalengängertum) oder in das Ruhrgebiet, wo sie als Bauhand­werker oder im Bergbau arbeiteten. Auch die Zuckerfabriken in Sachsen und um Braunschweig boten während der Saison gute Verdienstmöglichkeiten. Aus Friedewald wird berichtet, daß die Männer um die Weihnachtszeit, nach Beendigung der Zuckerrübenkampagne, nach Hause zurückkehrten und im Frühjahr nach Westfalen zogen.
Blick von der Widdershäuser Flur (Am Zipfen) auf das Kaliwerk Wintershall
Anfang der 60er Jahre, Kuhgespann von Karl Ruch *1910 an der Brücke, (Foto: Pfarrer H.G.Kirchner)
Veränderungen nach der Ansiedlung der Kaliwerke
Mit der Ansiedlung der Kaliindustrie im Werratal änderten sich die wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen des Gebietes grundlegend. Zwar brachte die neue Industrie der verarmten Region relativen Wohlstand und eine verbesserte Infrastruktur, aber auch den Wandel von der bisher agrarischen hin zu einer industriellen Region. Letzten Endes sollte die Gegend von der Kali­industrie ebenso abhängig werden, wie sie es zuvor von der Tuchindustrie gewesen war.

Zunächst aber brachte die Kaliindustrie der Region die dringend benötigten Arbeitsplätze. Nur ein geringer Teil der in den Werken Beschäftigten wurde von außerhalb herangezogen. Für die schwierigen Arbeiten beim Abteufen der Schächte warben die Unternehmen ausgebildete Bergleute aus älteren Kaligebieten, etwa aus Staßfurt oder Ascherslehen an, die teilweise auch nach Abschluß der Arbeiten vor Ort blieben.Zusätzlich zu diesen Bergleuten wurden ungelernte Arbeitskräfte aus der Umgebung eingestellt und eingearbeitet, so daß sie nach einiger Zeit als vollwertige Bergleute tätig sein konnten.

Auch die Lage des örtlichen Handwerks besserte sich, da die Bauhandwerker aus der Umgebung bei der Errichtung der Werksanlagen Beschäftigung fanden und viele infolge des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs eigene Betriebe gründen konnten. In der Zeit vor dem Anschluß der Werke an die Bahnlinie profitierten auch die Fuhrleute und Bauern aus der Umgebung von den neuen Werken, da sie mit Transportarbeiten gute Verdienste erzielen konnten.

Die durch die Ansiedlung der Kaliindustrie entstandenen Arbeitsplätze sorgten allmählich dafür, daß die bisherigen Saison-Wanderarbeiter in der Region bleiben konnten. Die Entwicklung hin zum fest angestellten Arbeiter in den Kaliwerken vollzog sich dabei allerdings erst im Laufe der Zeit. In den ersten Jahren übten die Kleinbauern die Tätigkeit, wie zuvor die Wanderarbeit, zunächst nicht als fest angestellte, sondern lediglich als zeitweise Arbeitskräfte aus. Während in den Zeiten, in denen Schächte abgeteuft oder die Werksgebäude errichtet wurden, ein ständiger Mangel an Arbeitskräften herrschte und gelegentlich die Arbeiten deswegen sogar tageweise eingestellt werden mußten,wurden insbesondere in Zeiten geringen Kaliabsatzes die Aushilfs­kräfte nur tageweise beschäftigt
Das typische 2er-Kuhgespann der Widdershäuser Kleinbauern, Familie Willi Ruch *1914 (Foto: Pfarrer H.G.Kirchner)
Vor allem in Friedewald, wo der tägliche Weg zu den Kaliwerken vor dem Bau der Bahnlinie besonders weit und beschwerlich war, wurde die Saisonarbeit in auswärtigen Zuckerfabriken und Ziegeleien auch nach der Ansiedlung der Kaliindustrie noch für einige Zeit beibehalten.

Die positive wirtschaftliche Entwicklung beschränkte sich nicht allein auf die unmittelbar bei den Kaliwerken Beschäftigten. Durch die gesteigerte Kaufkraft der Arbeiter profitierten auch Handwerker und Einzelhändler, wie aus der Eröffnung von zwei neuen Metzgereien in Heringen kurz nach der Eröffnung des Kaliwerkes abzulesen ist. Durch das erhöhte Steueraufkommen, das die Kaliwerke an die Kommunen abführten, machte sich in der gesamten Region ein allgemeiner Anstieg des Wohlstandes bemerkbar.
Schichtwechsel am Haupttor des Werkes Wintershall in Heringen, in den 1930er Jahren
Mit der Ansiedlung der Kaliwerke setztein der Region ein allmählicher Strukturwandel von einem kleinbäuerlichen Gebiet hin zu einer agrarisch geprägten Industrielandschaft ein. Vor allem in der Unmittelbaren Umgebung und im Nahbereich der Werke stieg die Zahl der landwirtschaftlichen Kleinstbetriebe einer Betriebsgröße unter 5 ha deutlich an.Die Gründe für diese Entwicklung waren der sozialökonomische Druck, der durch die Industrialisierung hervorgerufen worden war, sowie die allgemeine schlechte wirtschaftliche Lage der Landwirtschaft. Die Verschuldung der Höfeführte verstärkt zu Landverkäufen und damit zur Parzellierung der bestehenden Einheiten. Hinzu kam, daß durch die Erwerbsmöglichkeiten in der Kaliindustrie die Geschwister der Hoferben nicht mehr, wie in der Vergangenheit üblich, aus der Region abwanderten, und sich daher häufig ihr Erbteil in Land ausbezahlen ließen. Die Zahl der Kümmerbetriebe, deren Inhaber von der Landwirtschaft allein nicht mehr leben konnten und deswegen zur Industriearbeit überwechselten, stieg daher ebenso an wie die Abwanderung von nicht zur Familie gehörenden landwirtschaftlichen Arbeitern.
Schachthauer im Kaliwerk Herfa-Neurode vor der Einfahrt
In 1900 waren im Kreis Hersfeld 65% aller landwirtschaftichen Betriebe mit mehr als 2 ha verschuldet. Die mittlere Verschuldungslast betrug 18%, bei 4% der Betriebe sogar mehr als 50% des Grundvermögens.

Waren um 1933 im Durchschnitt noch 40 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, wobei die Werte regional differieren,so beträgt um 1960 allein der Anteil der in der Kaliindustrie Beschäftigten 45-60 Prozent. Durch den Aufbau der Kaliindustrie wurde auch die zuvor negative Bevölkerungsenrwicklung schon bald ausgeglichen. Die Aus- und Abwanderungsbewegung aus der Region kam zu einem Ende, und es ist sogar ein Zuzug von Arbeitskräften zu beobachten, so daß sich in den Bergbauzentren im eigentlichen Werratal die Bevölkerung innerhalb von vierzig Jahren nach dem Erscheinen der Kaliindustrie mehr als verdoppelt hatte.Auch die übrigen Gemeinden im Werragebiet verzeichneten Bevölkerungszuwächse, die mit zu­nehmender Entfernung zu den Kaliwerken jedoch abnahmen.

Neben den allgemein geschätzten wirtschaftlichen und sozialen Verbesserungen, die die Ansiedlung der Kaliindustrie in der Region bewirkte, wurden jedoch, insbesondere in den Berichten der Behördenvertreter, auch kritische Stimmen laut.So wurden die in der Industrie gezahlten Löhne im Vergleich zu den bisherigen Bedingungen als außerordentlich hoch empfunden. Insbesondere die Vergnügungssucht, die häufig stattfindenden “Lustbarkeiten" und die vermehrten Wirtshausbesuche der Arbeiter wurden in den vierteljährlichen Berichten der örtlichen Gendarmerieposten auf das schärftste kritisiert, zumal ein allgemeiner Verfall der Sitten, insbesondere der Jugend, daraus abgeleitet wurde.So berichtet der Gendarmerieposten in Friedewald vom 18.05.1911:

Arbeitsgelegenheit ist überall vorhanden. Die gewöhnlichen Arbeiter auf Schacht Herfa -Neurode erhalten pro Stunde 40 Pfg. Dementsprechend ist aber auch das Verhalten der Arbeiter Kleiderluxus, Vergnügungen, Trunkenheit und Frechheit sind an der Tagesordnung . Auch das weibliche Geschlecht macht diesen Fortschritt mit, besonders die Mädchen besuchen die Wirtschaften mit den Burschen, was früher nicht der Fall war. Weil die erwachsenen Söhne und Töchter Geld verdienen und den Eltern Kostgeld geben, haben die Eltern nicht mehr den Mut, den Kindern entsprechend entgegen zu treten und sie zum Sparen anzuhalten.

Auch der wachsende Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft wurde als negativ empfunden. Die guten Löhne, die die Arbeiter in der Industrie verdienen konnten, hatten dazu geführt, daß einheimische Kräfte mehr und mehr aus dem landwirtschaftlichen Bereich abwanderten.

Hervorgerufen werden diese Umstände wohl durch die sich mehr und mehr entwickelnde Kaliindustrie. Infolge der günstigen Lohnverhältnisse auf den Gewerkschaften wenden sich viele Arbeiter aus den landwirtschaftlichen Betrieben den Bergarbeitern zu und scheuen hierbei Wege von 3-5 Stunden nicht. Infolge der so eingetretenen, für die Landwirtschaft ungünstigen Verhältnisse, müssen auch dem Gesinde entsprechend höhere Löhne gezahlt werden. In letzterem Falle erzielen aber die Landwirte auch weit höhere Preise für ihre Produkte wie dies früher der Fall war (Bericht des Gendameriepostens Heringen vom 10.02.1907).

Autoren:
Ute Mayer, Auswirkungen der Kaliindustrie auf das Leben im Werragebiet,
in Die Kaliindustrie an Werra und Fulda, Geschichte eines landschaftsprägenden Industriezweigs, herausgegeben von Ulrich Eisenbach und Akos Paulinyi, Hessisches Wirtschaftsarchiv, Darmstadt 1998
Günther Glebe, Das hessische Werrakalibergbaugebiet. Kulturgeographische Wandlungen an der hessisch-thüringischen Landesgrenze seit 1900. [Rhein-Mainische Forschungen, Heft 66], Frankfurt am Main 1969
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