Grenze 1964
Chronik 2 > Zonengrenze
Nach Berliner Muster
Auch die Zonengrenze soll „durchlässig“ werden
Die Zeit, 24. Januar 1964, 07:00 Uhr
Was in Berlin möglich gewesen ist, sollte doch auch an der Zonengrenze möglich sein“, sagt Edwin Zerbe, Landrat im hessischen Kreis Hersfeld. Die Ostgrenze seines Landkreises ist die „Staatsgrenze der DDR“. Jedes Jahr werden rund 30 000 Mark an Berufstätige und Schüler gezahlt, die Umwege bis zu 20 Kilometern fahren müssen, weil der direkte Weg von Ort zu Ort von der Grenze zerschnitten wurde. „Auch für die Menschen an der Zonengrenze sollten Passierscheine zum Besuch von Verwandten und Bekannten im anderen Teil Deutschlands ausgegeben werden, vor allem für das Gebiet innerhalb des 15-km-Sperrgürtels, für das die DDR-Behörden bisher grundsätzlich keine Aufenthaltsgenehmigung mehr erteilen.“
Der mit "Spanischen Reitern" gesperrte Bahndamm der Kalibahn zwischen Widdershausen und Dankmarshausen, Blick auf den Diesberg mit Holz-Beobachtungsturm
Der Landrat, SPD-Abgeordneter im hessischen Landtag, meint, daß es doch eigentlich keinen Unterschied geben könne zwischen getrennten Berliner Familien und den Familien in Widdershausen (Hessen) und Dankmarshausen (Thüringen), die nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt leben. „In Berlin die Mauer, zwischen diesen beiden Dörfern Stacheldraht, aufgerissene Straße und Warnschilder. Der Eiserne Vorhang, das ist die gleiche Grenze, die in Berlin über Weihnachten geöffnet wurde. Auch die Bewohner von Widdershausen haben Freunde und Verwandte drüben in Dankmarshausen.“
Ähnlich wie in Berlin, hat es im Landkreis des Edwin Zerbe auch andere Zeiten gegeben. Da gab es für die Grenzbauern Dauerpassierscheine, da wanderten auch noch „Pendler“, die „hüben“ wohnten und „drüben“ arbeiteten, ohne Schwierigkeiten täglich zwischen beiden Welten. Es bestanden auch enge Kontakte zwischen den kommunalen Behörden diesseits und jenseits der Werra. Man verhandelte über die Wasserversorgung und über Flußregulierungen. „Technische Kontakte“ würde man das heute nennen. Der Ratsvorsitzende von Bad Salzungen und der Landrat in Bad Hersfeld waren sich keineswegs fremd. Bis dann der Kollege von der anderen Seite nicht mehr über gemeinsame Abwässernöte oder über die Waldnutzung, sondern nur noch über eine „atomwaffenfreie Zone in Deutschland mit dem Landrat reden wollte.
Hoz-Beobachtungsturm der Grenztruppen der DDR zwischen Widdershausen und Dankmarshausen 1965
„Damals brachen die letzten Beziehungen ab“, bedauert der Grenzlandbeamte Zerbe. „Aber Berlin hat uns neue Hoffnung gegeben.“ Niemand könne etwas dagegen haben, wenn zwei kommunale Behörden, die sich mit Souveränitätsfragen nicht befaßten, miteinander Kontakt aufnähmen. Die Passierscheine könnten, so meint Zerbe, von den Landräten und Kreisvorsitzenden unterschrieben werden, ohne dabei Bonn oder Ostberlin einzuschalten. „Eine Anerkennung der DDR würde damit nicht riskiert. Die Passierscheine müßten natürlich für den gesamten 15 Kilometer breiten Grenzstreifen gelten.“
Tatsächlich brauchte man nur da wiederanzuknüpfen, wo vor Jahren die Fäden zerrissen. Die damaligen halboffiziellen Gespräche zwischen den Anrainern am Eisernen Vorhang hatten manche Erleichterung gebracht, auch manchen Verwandtenbesuch ermöglicht; der „kleine Grenzverkehr“ in bescheidenem Umfang, auf der untersten Ebene ausgehandelt, hatte weder diplomatische Nachspiele, noch löste er Debatten über die „Anerkennung der DDR“ aus. Auf diesen Einfall, eine politische Großaktion daraus zu machen, kam erst die Junge Union des Kreises Alsfeld, als sie von Zerbes Passierschein-Vorschlag hörte. Die besorgten jungen Christlichen Demokraten warnten Zerbe „vor den Konsequenzen, die sich aus einer Passierscheinvereinbarung an der hessischen – thüringischen Grenze ergeben könnte“. Das könne leicht „zu einem Ausverkauf wichtiger rechtlicher Positionen ohne jede Gegenleistung des Ostens führen“.
Edwin Zerbe (*1916 - 1992) amtierte von 1955 bis 1970 als Landrat des Kreises Hersfeld. Anschließend war er bis 1972 Erster Kreisbeigeordneter des Kreises Hersfeld-Rotenburg.
Bewaffneter Zollbeamter neben einem Warnschild beobachtet mit Fernglas das Grenzgeschehen an der Zonengrenze 1964
Nur zustimmende Briefe aus Zonengrenzorten „von Helmstedt bis Hof in Bayern“ hat Landrat Zerbe auf seinen Vorschlag erhalten; doch von der anderen Seite kam bisher noch kein Echo. Wenn es drüben noch länger still bleibt, will Zerbe einen Brief an seinen Amtsnachbarn schreiben. „Seit damals vor Jahren endgültig der Vorhang fiel, haben wir uns nur noch Weihnachtskarten geschickt.“